Lass dir mal eine Geschichte erzählen...
- Lysann Völz
- 24. Juli 2017
- 4 Min. Lesezeit
Der angekettete Elefant

Du kannst nicht? Bist du sicher? "Na dann, lass dir mal eine Geschichte erzählen. Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommen vom Zirkus fasziniert, und am meisten gefielen mir die Tiere. Vor allem hat es mir der Elefant angetan. Wie ich später erfuhr, ist er das Lieblingstier vieler Kinder. Während der Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau. Nach der Vorstellung aber und auch der Zeit bis kurz vor seinem Auftritt blieb der Elefant immer am Fuß an einem kleinen Pflock angekettet. Der Pflock war allerdings nicht weiter als ein winziges Stuck Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand für mich außer Zweifel, dass ein Tier, dass die Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreien und fliehen konnte. Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute. Was hält ihn zurück? Warum macht er sich nicht auf und davon? Als Sechs- oder Siebenjähriger vertraute ich noch auf die Weisheit der Erwachsenen. Also fragte ich einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach dem Rätsel des Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir, der Elefant mache sich nicht aus dem Staub, weil er dressiert sei. Meine nächste Frage lag auf der Hand: „Und wenn er dressiert ist, warum muss er dann noch angekettet werden?“ Ich erinnere mich nicht, je eine schlüssige Antwort bekommen zu haben. Mit der Zeit vergaß ich das Rätsel des Elefanten und erinnerte mich nur dann wieder daran, wenn ich auf andere Menschen traf, die sich dieselbe Frage irgendwann auch schon einmal gestellt hatten.
Vor einigen Jahren fand ich heraus, dass zu meinem Glück doch schon jemand weise genug gewesen war, die Antwort auf die Frage zu finden:
Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er seit frühester Kindheit an einem solchen Pflock gekettet ist.
Ich schloss die Augen und stellte mir den wehrlosen Neugeborenen Elefanten am Pflock vor. Ich war mir sicher, dass er in diesem Moment schubst, zieht und schwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, weil dieser Pflock zu tief in der Erde steckt. Ich stelle mit vor, dass er erschöpft einschläft und es am nächsten Tag gleich wieder probiert, und am nächsten Tag wieder, und am nächsten… Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt. Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der ärmste glaubt, dass er es nicht kann. Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt.
Und das Schlimmste dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat. Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen."
Lieber Leser,
erkennst du dich wieder?
Stehst du manchmal auch an diesen Pflock und vertraust nicht auf deine ureigene Stärke?
Du glaubst lieber, das was man dir als Kind immer und immer wieder gesagt hat...
Das du nicht stark genug bist, dass du nicht liebenswert seist, dass du nicht schön genug bist,...???
Du glaubst daran, da sich die Sätze die dir immer und immer wieder gesagt wurden, sich auch bewahrheiteten! Du solltest etwas tragen, wofür du noch nicht ausgelegt warst- Du warst in diesem Moment zu schwach.
Du wolltest geliebt werden, aber es war niemand da, der deine Liebe erwiderte- Du wurdest in diesem Moment nicht geliebt.
Du solltest schön aussehen, damit man dich vorzeigen kann. Doch du sahst nie so aus, wie andere dich wollten. Du wurdest ausgelacht, gehänselt und irgendwann glaubtest du, - du seist nicht schön?
Du hast etwas übersehen:
Sahst du, dass es nur ein Moment war, in dem du dich so gefühlt hast?
Das heißt nicht, dass dieser Moment > immer < sein muss. Das Ganze muss sich nicht! immer und immer wiederholen,..
Vielleicht wachst du eines Tages auf und merkst:
Ich bin stark und bin bereit nun das zu tragen, wofür ich ausgelegt bin.
Ich bin geliebt und bin bereit Liebe zu verschenken! Auch wenn derjenige mir nicht seine Liebe schenken kann, da er zu beschäftigt mit sich selbst ist- kann ich es tun!
Ich bin schön und stehe zu meinem einzigartigen Aussehen.
Wenn du an diesem Punkt bist, dann bist du
FREI
und brauchst dich nicht mehr an den Pflock binden, der dir aufgebunden wurde!
Stell dir vor die Geschichte würde weiter gehen...
"Dieser riesige Elefant erschreckt sich eines Tages vor einer kleinen Maus, die plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht. Er will ihr ausweichen und rennt vor ihr weg. Als er plötzlich merkt, dass die Ketten nicht mehr so schwer sind, dass sich der Pflock wie von alleine aus der Erde gelöst hat. So rennt der Elefant um sein Leben. Er trampelt den ganzen Zirkus kaputt bis er dann nun endlich den Weg heraus findet. Er riecht den süßen Duft der Freiheit und rennt aus dem Zirkus um sein Leben. Sollte er nochmal in die Gefangenschaft geraten, weiß er jetzt wie stark er ist und er weiß auch wie die Freiheit riecht.
Er wird seinen Ausbruch immer wieder versuchen. Seien die Ketten, die ihm auferlegt werden noch so stark oder die Gitterstäbe der Käfige noch so dick. Auch wenn er ahnt dass, er mit seinem Leben für seine Freiheit irgendwann bezahlen muss. Dieser Elefant wird es immer wieder versuchen zu fliehen. Denn er kennt jetzt seine Kraft und er weiß wie die Freiheit riecht."
Ein Auszug aus dem Buch "Komm ich erzähl dir eine Geschichte" von Jorge Bucay
Erinnere dich daran, was du bist:
Du bist stark! Du bist liebenswert! Du bist schön!
Und nun: LAUF!

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